-33 Grad, eisiger Wind, dunstig, feuchte Luft, die einem kaum von einem Strassenblock zum nächsten sehen lässt, jede Menge Schnee und Eis, eine Jahresdurchschnittstemperatur von 0 Grad, russisch anmutende Häuserfronten, dick verhüllte Menschen mit weissen Hauchfahnen vor dem Gesicht und dicke Eisschichten auf Strassen, Gehwegen und Häuser – das ist Harbin kurz vor Sibirien an der russischen Grenze und eine der nördlichsten Städte Chinas.
Wer diesen unwirklichen Ort besucht, der sollte darauf gut vorbereitet sein. Damit ist nicht etwa die Reiseplanung gemeint, sondern die Auswahl und Beschaffung der Garderobe: Skiunterwäsche, Fleecepullover, dicke Fausthandschuhe, eine Soft-Shell-Jacke, gefütterte Schuhe, dicke Skisocken und eine Jacke mit einer gefütterten Kapuze müssen es schon sein, wenn man nicht gleich nach der Ankunft bitter frieren will.
Man mag sich nun – durchaus berechtigt – fragen, warum man Geld für einen 3-Stunden-Flug und ein Hotel ausgibt, um einen solch unwirklichen Ort zu besuchen. Die Antwort darauf ist ein im Westen NOCH nicht so bekanntes Spektakel, das sich in dieser beschaulichen 5 Millionen Einwohnerstadt alljährlich zwischen Dezember und Februar abspielt. Und dieses nennt sich vielversprechend: „Harbin International Ice and Snow Festival“.
Aber von vorne:
Mit der (einzigen) chinesischen Billigairline „Spring Airways“ erreicht man nach knapp 3 Stunden Flug, wovon gut die Hälfte für eine Verkaufsshow über den Wolken genutzt wird für so nützliche Produkte wie Reiseföhns, aufblasbare Massagekissen, MP3-Playerboxen, Elektrorasierer oder Stofftiere die Nachrichten aufzeichnen können , welche allesamt lautstark von der Stewardess per Boardlautsprechersystem angepriesen und vor allem erstaunlicherweise von den Passagieren euphorisch und in Massen gekauft werden, den Harbin international Airport.
Schon bei der Landung und dem Blick aus dem Flugzeugfenster wird einem deutlich, dass man die Kälte, welche hier herrscht förmlich sehen kann: Ein mystischer Dunst liegt über der kargen Schneelandschaft, die Scheiben setzen sofort Frost an und die Vorfeldmitarbeiter sind in dicke Jacken mit Fellfutter und Pelzmützen gehüllt. Beim Aussteigen durch die von innen! mit Eis beschlagene Gangway bekommt man nur einen kleinen Vorgeschmack auf das, was einem danach beim Verlassen des Flughafengebäudes erwartet: Kaum schiebt sich die automatische Glastür zur Seite, schlägt einem die eiskalte Luft mit voller Wucht gegen den Körper und sticht förmlich durch die vielen Kleidungsschichten, in denen man im Flieger noch geschwitzt hat. Der Weg vom Flughafenterminal zum Taxistand nimmt maximal 2 Minuten in Anspruch, aber die reichen bereits aus, dass man erbärmlich zitternd hände- und armereibend ins russisch anmutenden Gefährt springt und froh ist wieder irgendwo drin zu sein.
Im Hotel angekommen möchte man vor allem eines: Nicht wieder raus! Aber um in eine Stadt zu fliegen um das Wochenende im Hotel zu verbringen erscheint dann doch nicht ganz sinnig und so zieht man nochmal 3 Lagen mehr Kleidung an für die 1 Minute in der feindlichen Kälte vom Hotel zum Taxi und vom Taxi hinein ins russische Restaurant. Dort angekommen braucht man dann trotz ausgefeiltem Zwiebelsystem erst mal wieder gute 30 Minuten und mindestens eine russische „Bortsch“-Suppe um wieder halbwegs auf Betriebstemperatur zu kommen und später den Weg zurück ohne größere Verluste durch Erfrierungen zu überleben. Da stört es dann auch nicht, dass der Kellner nur noch „warmes“ Bier anbieten kann.
Und das alles sollte erst ein zarter Vorgeschmack für das sein, wofür man eigentlich in diese unfreundliche Stadt geflogen ist: Das Eis. Während Harbin vor ein paar Jahren vermutlich nicht nur außerhalb Chinas noch kein Mensch kannte hat sich diese Stadt ihr kaltes Schicksal in den letzten 10 Jahren zum Vorteil gewendet und nutzt die Tatsache, dass hier alles und alle in den Wintermonaten (von September bis Mai) sofort gefriert, um alljährlich eine unbeschreiblich faszinierende Kulisse aus Eis und Schnee zu schaffen.
Über die Stadt verteilt gibt es mehrere Schauplätze an denen Künstler aus aller Welt mit Motorsägen, Spachtel und Meißel riesige Eisblöcke aus dem lokalen Fluss, welcher komplett zufriert, zu allem möglichen Verwandeln. Neben einer Vielzahl von beeindruckenden Skulpturen und Bilder aus Eis und Schnee werden ganze Brücken, Häuser, Türme und sogar Schlösser gebaut, die man nicht nur anschauen sondern auch besteigen kann.
Absolutes Highlight ist ein ganzes Fantasiedorf, welches etwas außerhalb der Stadt auf einer unglaublich großen Fläche aufgebaut und nachts mit tausenden von LED-Strahlern in allen möglichen Farben sehr beeindruckend beleuchtet wird. Viele der Bauwerke kann man über Eistreppen besteigen und von manchen führen Eisrutschen wieder nach unten, die zwar Spaß machen, aber für blaue Flecken an delikaten Stellen sorgen.
Es gibt hier so viel zu sehen und das Gelände ist so gigantisch groß, dass man am liebsten Stunden verbringen würde – wäre es nicht so unglaublich und schmerzhaft kalt. Bereits nach einer halben Stunde konnten die ersten aus unserer Truppe trotz zig Kleidungslagen, Thermosocken und Fettcreme ihre Zehen nicht mehr spüren und bereits nach einer knappen Stunde konnten wir nicht mehr anders und mussten in einer der extra zu diesem Zweck aufgestellten Aufwärmpavillons der Kälte geschlagen geben und unsere Füße auf Heizkörpern und den Rest des Körpers mit heißem Tee auftauen für die zweite Runde.
Diese dauerte dann nicht viel Länger und trotz dem einmaligem Anblick und überwältigender Begeisterung anbetrachts dieser beeindruckenden Kunstwerke, welche in ein paar Wochen alle zu Wasser geschmolzen sein werden konnten wir einfach nicht mehr länger und sehnten uns nach einem beheizten Raum und etwas warmen zu essen.
Auch als wir am nächsten Tag Asiens längste Fussgängerstrasse, die Central-Street besichtigten hielten wir es nicht viel länger draußen und nach der knapp einstündigen Wanderung auf dem meterdick gefrorenen Fluss, der Schiffe, Stege und ganze Schwimmhäfen fest eingeschlossen hat, wussten wir eine heiße Suppe danach mehr zu schätzen als vermutlich je zuvor.
Trotzdem wagten wir uns nochmals nach draußen und dieser Trip war für mich mindestens so beeindruckend wie die Eisstadt. In Harbin gibt es eine Auf- und Nachzuchtstation für Sibirische Tiger in der mit über 800 Raubkatzen in riesigen Freianlagen die größte Population dieser bedrohten Tiere weltweit lebt. In vergitterten Safaribussen kann man eine absolut lohnenswerte Tour durch die Anlage machen und die Tiger in fast freier Laufbahn beobachten. Wer Glück hat, der hat auf seiner Tour dann auch noch einen blutrünstigen Gast dabei, der 50 RMB (5,50 Euro) für ein lebendes Huhn, 60 RMB (knapp 7 Euro) für ein Riesenstück Fleisch oder 2000 RMB (210 Euro) für ein ganzes (auch lebendiges) Kalb ausgibt, welches dann vor dem Bus der hungrigen Tiegermeute ausgesetzt und zugleich gerissen und zerlegt wird.
Alles in allem ein trotz der extremen und nie zuvor erlebten Kälte ein absolut lohnender und empfehlenswerter Wochenendausflug und für diejenigen, welche gerne wiederkommen wollen gabs dann in der inflight-Verkaufsshow auf dem Rückflug auch gleich die passende Wärmedecke zu kaufen.
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